Späte Stadien (6) – Begleiterscheinungen psychischer Natur

Haben Sie denn schon die vorangegangenen Artikel dieser Reihe gelesen? Das wäre wichtig, damit Sie wissen, worauf Sie sich hier einlassen.

Ein bisschen können Sie das als aufmerksamer Leser auch so einschätzen: Von der Startseite wissen Sie, dass ich 2004 meine Diagnose bekam. Dieser Artikel wird ein Ersterscheinungsdatum 2019 tragen. Es sind also bereits fast 15 Jahre, die ich nun mit der Erkrankung „verbringe“.

Da erwarten Sie sicher nicht, dass ich über die Freuden des Wanderns berichte. Oder des Reisens. Sie rechnen auch nicht damit, dass ich über die wunderbare Musik schreibe, die ich gerade bei vollem Volumen meiner Kopfhörer höre (Wagner Tennstedt).

Und Sie sind es auch gewohnt, dass ich immer erst ein paar Schleifen drehe, bevor ich „zur Sache“ komme.

Aber nun beginnen Sie vielleicht doch, sich zu fragen, warum ich hier so viel Geplänkel mache, um das Thema anzukündigen.

Und ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass ich von dem, worum es hier geht, aktuell NICHT betroffen bin. Das schreibe ich vor allem für die, die hier mitlesen, weil sie wissen wollen, wie es mir geht. Sie müssen sich keine Sorgen machen.

Denn ich beschreibe gleich weniger meine eigenen Gedanken als vielmehr die von anderen, die ich kenne. Und dies sage ich zum einen, weil es so ist. Zum anderen aber auch deshalb, weil mir die Äußerung meiner eigenen Ansichten eine der wichtigsten Optionen denkbarer Heilverfahren nehmen könnte, die ich noch habe:  die tiefe Hirn-Stimulation. Dabei handelt es sich um einen operativen Eingriff, bei dem elektrische Zuleitungen ins Hirn gesetzt werden.

Wenn Sie sich damit ein wenig auskennen, wissen Sie nun, was das Thema ist: Der Gedanke an die Beendigung des eigenen Lebens. Wenn ich solchen Gedanken nachhängen würde, würde mich das für die Hirnoperation disqualifizieren.

Bei früheren Studien mit Patienten, die sich die Elektroden ins Hirn haben einbauen lassen, weiss man nämlich, dass – bei erfolgreicher (!) Operation – die Suizidrate um den Faktor 10 gestiegen ist.  Aber das war früher.

Heute weiss man, dass die Zielpunkte, jene erbsengroße Areale im Hirn, in die die Elektroden eingebracht werden, in jeweils einer Hälfte auch für die Steuerung negativer Gedanken bzw. Gefühle  zuständig sind. Deshalb platziert man die Elektroden in der jeweils anderen Hälfte.

Und: Man lässt keine Patienten zu, die bereits intensiv über Lebensbeendigung nachgedacht haben.

Auch aus diesem Grund stelle ich hier also nicht meine eigenen Gedanken dar. Denn wenn ich dann doch mal irgendwann OP-reif bin, will ich nicht hören, dass es nicht geht, weil ich hier irgendetwas auf dieser Website geschrieben habe.

Also: Nachfolgendes ist zwar in der „Ich“-Form geschrieben – entstammt aber Gesprächen mit anderen und stellt nicht oder jedenfalls nicht unbedingt meine eigene Meinung dar.

Die Bedeutung eines Sprichwortes

Sie kennen natürlich das Sprichwort „Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Darin wird klar Position bezogen – schnelles Ende ist besser als ein schleichendes. Und das soll im Prinzip immer gelten.

Was würde das für Parkinson bedeuten? Ein Ende mit Schrecken?

Nun gehen die Hände hoch – abwehrend. Nein, so kann das doch nicht gemeint sein. Oder doch?

Sehen wir uns ein anderes Beispiel an. Das ist ein Alptraum, den ich immer wieder habe. Es ist ein der wenigen, an die ich mich hervorragend erinnern kann. Ich weiß nicht warum. Vielleicht, weil er immer wieder kommt. Vielleicht, weil es keinen wirklich guten Verlauf nimmt – egal, welche Handlungen man durchführt.

So geht der Traum: Ich lande auf einer einsamen Insel. Auf ihr gibt es nichts als Urwald, herrlichen Sandstrand, schöne Landschaft und — Menschenfresser.

Ich bin also eine Art Leckerbissen für die dort lebenden. Und so werde ich also vorbereitet, um als nächstes Festmahl dienen zu können. Der Häuptling der Kannibalen ist aber nett zu mir: Er erklärt mir, dass ich nun zu sterben habe. In seiner Großzügigkeit lässt er mir die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. In jedem Fall werde ich in siedendem Öl frittiert. Dazu werden zwei fassgroße, ölbefüllte Töpfe über Feuerstellen angebracht, so dass Öl erhitzt werden kann. Ich kann mir nun aussuchen, ob ich schon zu Beginn des Erhitzens in einen der Töpfe steige, also praktisch langsam mitkoche, oder ob ich warten will, bis das Öl vollständig erhitzt ist und siedet, so dass man mich dann in den Topf lässt und mein Ableben schnell geht.

Nachdem er mir also meine beiden Möglichkeiten erläutert hat, darf ich entscheiden. In der Regel ist das der Punkt, an dem ich aufwache und merke, dass es „nur“ ein Traum war.

Bevor Sie, lieber Leser, nun gleich weiter lesen, schlage ich Ihnen eine Pause vor. Diese sollten Sie nutzen, um sich zu erholen. Zwar ist die Traumgeschichte sehr kurz – aber sie hat es unter einer Reihe von Aspekten ganz schön „in sich.“

Die Konsequenzen des Traumes

Die Entscheidung für eine der beiden Varianten ist – merkwürdigerweise – gar nicht so einfach. Folgen wir dem Sprichwort, ist die Wahl klar: Wir bevorzugen den schnellen Tod.

Aber die meisten Menschen finden diese Wahl nicht so einfach. Es gibt viele, die lange darüber nachdenken, ob hier das langsame Mitkochen nicht doch die bessere Variante ist.

Aber warum ist das so? Was macht ausgerechnet hier die Wahl so schwer?

Das sieht man wohl am besten, wenn man sich vorstellt, worauf es „in der Praxis“ – ich weiss, das klingt lächerlich – hinausläuft: Viele starten im zunächst kalten Topf und bleiben dort, bis sie es nicht mehr aushalten. Und dann steigen sie um auf den heissen Topf, in dem das Öl bereits siedet, und geben sich dem schnellen Tod hin. Das steht eigentlich gar nicht zur Wahl. Und doch ist es der am häufigsten erdachte Weg, den die meisten nehmen.

Und bei diesem Gedankengang kann man auch gut erkennen, warum die Wahl überhaupt so schwer fällt. Beim Gang in den schon heissen Topf hat man eine ganz kurze Phase, die sehr schmerzhaft ist – und man weiss das im Vorfeld. Selbst bei größter Hitze stirbt man nicht sofort. Sondern man ist qualvoll dem heissen Öl ausgeliefert.

Das ist übrigens beim Gang in den anfänglich kalten Topf ebenso, vermutlich sogar schlimmer, weil länger  –  aber es steht nicht so unmittelbar vor einem.

Es ist also dieser „Preis“, den wir im einen Fall sofort zu zahlen haben – der Schmerz -, der uns veranlasst, nicht die schnelle Variante zu nehmen.

Und das ist – in normalen Situationen – eine geniale Konstruktion der Natur: Der Schmerz als Barriere für den Freitod hält uns davon ab, diesen zu leichtfertig zu wählen. Der Blick in den Abgrund vor dem Sprung aus luftiger Höhe, die Vorahnung der Luftknappheit beim Ertrinken, die Vorstellung des halszerreißenden Stricks beim Erhängen – all das lässt uns davor zurückschrecken, voreilig diesen Weg zu gehen. Wir mögen keine Angst vor dem Tod haben – aber vor dem Sterben schon.

Als Parkis haben wir nur ein Problem: Wir sind schon drin – in dem Topf mit Öl, der kalt beginnt und dann kaum merklich immer wärmer wird. Was im Topf als Hitze erscheint, ist bei uns die Unbeweglichkeit.

Folgen wir dem Traum und dem Sprichwort, müsste jeder von uns gleich Hand an sich legen. Das tun wir aber nicht. Jedenfalls nicht, solange wir es noch aushalten bzw. das Leben noch genügend schöne Momente bereithält.

Irgendwann – in naher oder weiter Ferne – aber wird er kommen: Der Moment, in dem wir sagen, es wird Zeit, die Party des Lebens zu verlassen.

Haben wir dann noch genug Kraft und Bewegungsfähigkeit, es zu tun, also uns selbst aus dem Leben zu nehmen? Das weiß ich nicht.

Und: Wie machen wir es eigentlich?

Wir können von der Brücke springen – aber von welcher? Wie hoch muss sie sein? Was geht als Untergrund?

Wir können uns erschiessen – aber woher bekommen wir die Waffe und die scharfe Munition? Und wie genau müssen wir sie ansetzen?

Wir können Gift schlucken – aber welches? Und in welcher Dosis müssen wir es nehmen?

Diese Liste lässt sich ewig fortsetzen. Sie zeigt, wie schwierig es sein kann, selbst Hand an sich zu legen. Denn wenn man das tut, soll es natürlich gleich im ersten Anlauf „ein Erfolg“ sein. Niemand möchte mit möglicherweise starken Beeinträchtigungen aufgrund eines „missglückten“ Versuches weiterleben.

Sterbehilfe

Leider ist das Thema „Sterbehilfe“ in Deutschland sehr stark tabuisiert. Es gab und gibt einige gelegentliche Talkshows. Meist waren dort Schweizer Sterbehelfer eingeladen, die dann coram publico geröstet wurden. Das Problem dabei ist: So kann die Bevölkerung gar keine Wertvorstellungen diesbezüglich entwickeln.

Es erscheint mir merkwürdig, dass bei Tieren folgendes möglich ist: Wenn Besitzer und Tierarzt sich einig sind, dass die Fortsetzung des Lebens eher mit Leiden, Schmerzen und Qualen verbunden sein wird, dann können sie das Tier von seinem Leiden erlösen.

Die Erlösung erfolgt in der Regel durch Einschläfern – ein verharmlosend wirkendes Wort für Tötung. Dies vollzieht sich in zwei Stufen. Zunächst wirkt ein Schlafmittel, dann ein tödliches Gift.

Es erscheint mir verständlich, dass es beim Menschen nicht ganz so „einfach“ (zwei Augenpaare genügen) gehen kann. Die Anforderungen wird man höher stecken müssen.

Aber es erscheint mir unverständlich, dass der Mensch glaubt, so viel mehr als ein Tier zu sein, dass es in Deutschland nicht den leisesten Ansatz gibt, eine ähnliche Regelung auch beim Menschen zu ermöglichen.

Solange das Thema tabuisiert ist, wird es bleiben wie bisher: Hinter vorgehaltener Hand wird das Thema erörtert. Quacksalber-Halbwissen über vielleicht funktionierende Tötungsarten wird ausgetauscht.

Die Sorgen, die man sich bei Tieren macht, zählen beim Menschen nicht. In § 4 des Tierschutzgesetzes heisst es: „Ein Wirbeltier töten darf nur, wer die dazu notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten hat.“ Den Menschen dagegen überlassen wir sich selbst.

Und noch etwas anderes scheint mir ziemlich unsinnig zu sein. In einer sogenannten Patientenverfügung kann ich festlegen, unter welchen (künftigen, unbekannten) Umständen ich die Abschaltung einer Maschine wünsche, die mich am Leben erhält. Ich kann aber  nicht verfügen, dass man mich aktiv erlöst.

Und noch einen anderen Aspekt möchte ich kurz beleuchten: Die Verantwortung für die Angehörigen, Schutzbefohlenen und sonstige weitere Menschen, die an einem hängen. Natürlich ist es richtig, dass sie alle unter einem vorzeitigen Tod leiden werden.

Aber wie anmaßend ist es zu glauben, dass sie nicht oder jedenfalls weniger leiden, wenn der betroffene Patient länger lebt? Ganz besonders perfide erscheint mir die doppelbödige Moral, das bei Einräumung der Möglichkeit zum selbstgewählten Tod der Erwartungsdruck der Angehörigen jemanden veranlassen könnte, sich das Leben zu nehmen.

Alle diese Tabudiskussionen machen vor allem eins: Ein schlechtes Gewissen.

Das Problem dabei ist: Die Moralisten verkennen die Realitäten des Lebens. Der Tod gehört zum Leben dazu. Und es ist legitim – ja, oft sogar wünschenswert -, das Leben zu beschleunigen – und dem Tod ein wenig früher zu begegnen als sonst. Denn das tut niemand freiwillig. Sondern nur, wenn andere Lebensumstände so sind, dass der Gedanke näher kommt. Ja, man soll die Party verlassen, wenn es am schönsten ist – und das kann für manche früher sein. Das ist zwar nicht optimal, aber es ist einfach so.

Welche Bezeichnung ist richtig – „Freitod“ oder „Selbstmord“? In Deutschland ist es immer das zweite.

Ich hoffe, dass manch ein verantwortlicher Politiker diese Zeilen liest, selbst darüber nachdenkt und die Rechtslage ändert. Zwischenzeitlich – im Februar 2020 – hat das Bundesverfassungsgericht ein wegweisendes Urteil gesprochen. Der Tod gehört zum Leben. Und niemand muss sich rechtfertigen dafür, dass er die Herbeiführung wünscht. Und: Der Wunsch auf Lebensbeendigung muss nicht aus gesundheitlichen Aspekten vorhanden sein.

Leider hapert es mit der Umsetzung. Der Bundestag hat sich zwar schon mehrfach mit dem Thema befasst – aber Beschlüsse stehen aus. Einerseits verständlich – das Thema ist schwer. Andererseits: Es ist wichtig – also wäre eine schnelle Umsetzung geboten.

Wenn ich dann mal den Punkt erreiche, an dem für mich die Party so schön ist, dass ich sie verlassen sollte, kann ich dies vielleicht dann sogar in Deutschland tun – mit guten Regeln, die dem heutigen Leben angepasst sind. Ich müsste dann nicht mehr in die Schweiz fahren, die bereits soweit ist.

Ich finde schon immer, dass die Schweiz ein tolles Land ist. Ihre Berge und Naturschönheiten können wir kaum hierherholen. Aber wir können von den Schweizern lernen, das Leben so zu nehmen wie es ist: Im Grunde schön, aber eben nicht immer ein Ponyhof.

(Diese Gedanken sind nicht zwingend die des Autors dieser Website.)

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