Späte Stadien (17) – Verlernen des Laufens

Ich hatte als Vater ein Riesenglück: An dem Tag, an dem mein Sohn erstmalig laufen konnte, war ich zufälligerweise dabei. Es ist für alle Eltern wie für das Kind selbst ein großartiges Ereignis. Denn mit dem Laufen beginnt die Erkundung der Welt.

Wir saßen auf dem Boden. Plötzlich – ganz unvermittelt – ging mein Sohn auf die noch wackeligen Beinchen und machte seine ersten Schritte. Am meisten faszinierte mich der Gesichtsausdruck. Er schien zu sagen: „Hoppla, was ist das? Ich kann zu einem entfernt liegenden Gegenstand hingehen. Und ich kann frei entscheiden zu welchem und wann. Damit kann ich Areale erkunden, die ich vorher gar nicht betreten konnte..“ Das waren also ganz viele Erkenntnisse auf einmal. Aber natürlich sind die hier geäußerten Vaterfreuden viel zu euphorisch dargestellt.

Das war vor etwa 20 Jahren.

Heute zwingt mich mein Parkinson immer mehr und häufiger, das Gegenteil zu tun: das laufen zu verlernen. Und wie immer macht er das sehr gründlich. Es ist als wollte er mir jede Facette zeigen, die das laufen schön macht – um sie mir dann zu nehmen.

Dies vollzieht sich in zahlreichen Einzelschritten – zwei voraus, einen zurück.

Wie kann man sich das vorstellen? Sie liegen im Bett. In der Nacht wachen Sie auf. Sie müssten nun dringend auf die Toilette. Sie wollen aufstehen. Dazu heben Sie normalerweise die Beine, schwenken sie aus dem Bett und erheben sich dann. Am heutigen Tag aber versagen die Beine den Dienst – Sie bekommen sie gar nicht hoch. Es ist wie immer bei Lähmungserscheinungen: Sie können keine Kraft aufbieten, um das betroffene Körperteil – hier: die Beine – in irgendeine Richtung zu bewegen.

Es beginnt mit dem Anwinkeln. Will man sich setzen oder von einem Stuhl aufstehen, müssen die Beine das Abknicken – und sein Gegenteil – das Langmachen – beherrschen. Und auch das Stehenbleiben ist nicht selbstverständlich. Manchmal kommt der Kreislauf beim Sich-Erheben nicht schnell genug auf Touren. Oder die Schenkel sind nicht stark genug, den Rumpf des Körpers zu tragen Sie knicken dann weg und verweigern die Gefolgschaft. In der Regel strauchelt man und fällt auf die Knie. Zum Wiederaufstehen benötigt man einen Griff, oder einen anderen Gegenstand, an dem man sich festhalten und hochziehen kann.

Aufstehen ist das eine.. Das andere ist die Fähigkeit, dann stehenzubleiben. Viele Parkinsonpatienten sind im Bauchbereich etwas nach vorne gekippt. Das ist das normale Erscheinungsbild – die sogenannte Kamptokormie Ich dagegen bin zur Seite geneigt – Pisa-Syndrom. In welche Richtung auch immer – es zieht nach unten. Und die Schiefhaltung macht meist auch Schmerzen,, weil Organe zusammengedrückt oder auseinander gezogen werden.

Parkinson unterliegt auch hier wieder einem Teilzeitmodell – in bestimmten Phasen kann man noch laufen, in anderen dagegen nicht mehr. Ich kann insbesondere nachts – ohne Medikation – nicht mehr gehen. Wenn ich mich dann fortbewegen will, muss ich auf den Knien herumrutschen oder ich brauche Hilfe. In Betracht kommen Hilfsmittel (Rollstuhl, Gehstock) oder ein pflegender Betreuer. Letzteren will ich aber ungern wecken..

Es erscheint mir wichtig, dass man sich im Vorfeld darauf einstellen kann. Egal ob der Parkinson mit Zittern (Tremor) oder Lähmung (Rigor) begann – langfristig konvergieren alle Ausprägungen in die Unfähigkeit zu Laufen. Man sollte sich deshalb rechtzeitig über die denkbaren Hilfsmittel informieren und sie für sich ausprobieren. Das geht manchmal auch schon im Alltag. Den Effekt eines Rollators beispielsweise kann man erahnen wenn man sich an einem Supermarktwagen festhält.

Das Erlernen des Laufens ermöglichte dem Kind einen erweiterten Aktionsradius. Umgekehrt wird der Aktionsradius kleiner, wenn man das Laufen verlernt..