Späte Stadien – Tagesprotokolle 2024-04

29.04.2024

Umgang mit Suchtverhalten

Dies betrifft primär Patienten, die auch Dopaminagonisten als Medikation bekommen. Das ist normalerweise bei young onset-Patienten der Fall, Das sind diejenigen, bei denen die Erstdiagnose ungefähr vor dem 40. Geburtstag erfolgte. Es können auch ältere sein – diese Altersgrenze ist alles andere als trennscharf.

Agonisten entfalten über lange Zeiträume Wirkung. Sie werden zum Teil als alleiniges Medikament gegeben, aber auch sehr gerne in Kombination mit L-Dopa.

Das Kernproblem dieser Medikamentenklasse sind ihre Nebenwirkungen. Sie machen nicht nur müde, sondern sehr müde – und sehr plötzlich müde. Man nennt das Schlafattacken, denn sie lassen einen buchstäbl.ich überall und jederzeit in Schlaf fallen.. Das gilt jedenfalls für die Anfangszeit, später wird das besser.

Und der Personenkreis, den solche Nebenwirkungen treffen, ist sehr groß. Das Wort „Neben“-Wirkung erscheint etwas deplatziert.

Es gibt weitere Wirkungen, die problematisch sind und eine weite Verbreitung finden. Sie treten oft erst nach Jahren auf. Es handelt sich um sogenannte Störungen der Impuls-Kontrolle.

Dazu gehören:

  • .Spieltrieb: Neigung zu Glücksspiel (Kasinos, Internetspiele, Lotterien etc.)
  • Hypersexualität („Anbaggern“, Prostitution, promiskuitives Verhalten etc.)
  • Kaufrausch (insbesondere Erwerb von nutzlosen Dingen verbunden mit unerwünschten Folgeeffekten wie zum Beispiel der Anhäufung von Schulden oder der Verschleierung der Masse der Einkäufe)
  • Esssucht (Völlerei)
  • Hobbvismus (die übertriebene Ausübung von Aktivitäten wie Gärtnern, Malen, Computernutzung usw.)
  • Punding: Die stete Wiederholung einer komplexen Tätigkeit, die ohne sichtbares Ziel erfolgt.
  • Medikamentenrausch, insbesondere die Applikation zu hoher Dosen von Anti-Parkinson-Mitteln

Diese Aufzählung orientiert sich an einem dazu existierenden Fragebogen für Patienten (Link am Ende dieses Artikels).

Wie immer bei solchen Aufzählungen ist es gut, nach fehlenden Elementen zu fragen. Hier fehlt insbesondere die Sucht nach Alkohol, die Magersucht und das Verlangen nach Süßigkeiten oder Tabak. Allerdings: Es kann sein, dass diese in den einzelnen Rubriken drinstecken, ohne explizite Erwähnung zu finden.

Schon im antiken Griechenland wusste man, wie schwer es ist, einer Sucht zu entkommen. Odysseus näherte sich der Insel der Sirenen (Mischwesen aus Mensch und Vogel, meist weiblich dargestellt). Diese lockten Vorbeifahrende an, zu ihnen zu kommen. Sie benutzten dazu ihre betörenden Stimmen und die Verheißung, künftige Ereignisse vorhersagen zu können,. Diejenigen Seeleute, die dem Reiz erlagen und ihnen auf ihre Insel folgten, starben. Um heil daran vorbeizukommen, veranlasste Odysseus seine Leute, ihre Ohren mit Wachs zu verschließen. Er selbst ließ sich für diese Passage am Mast des Schiffes festbinden. So konnte er den Gesang zwar hören, nicht aber der Versuchung erliegen, die Insel zu betreten. Zu diesem Vorgehen hatte ihm die Zauberin Kirke geraten. (Quelle für diesen Absatz: Wikipedia-Artikel über Sirenen, Link s.u.)

Eine etwas andere Technik benutzte Orpheus, ein Sänger aus der griechischen Mythologie. Er übertönte mit seiner Leier die Stimmen der Sirenen.

Auf unser Thema übertragen bedeutet dies: Man kann versuchen, den süchtig machenden Reiz gut zu verstecken (Wachs in den Ohren lässt die Matrosen die liebliche Musik erst gar nicht hören). Oder man sorgt dafür, dass der Süchtige keine Möglichkeit hat, dem Lockruf zu folgen. Oder man erzeugt einen anderen Reiz, der den ursprünglichen übertönt.

Ein Verstecken des Reizes scheidet bei uns faktisch aus. Denn wenn dies als Nebenwirkung eines Medikamentes auftritt , können wir das nur hinnehmen. Wir sind nicht in der Position, das Medikament anzupassen oder dessen Wirkungen abzustellen.

Wohl aber kann sich der süchtige Parkinson-Patient selbst festbinden, indem er seine Möglichkeiten beschneidet. Beispielsweise kann man die eigenen Geldausgaben budgetieren oder bei der Bank Kontotypen wählen, bei denen eine Überziehung nicht zulässig ist.

Eine weitere Maßnahme liegt in der Sperrung bestimmter Websites im Internet-Browser. So kann der Zugriff auf Websites mit Spielen unterbunden werden.

Der Partner kann dabei helfen. Wenn dies in gegenseitiger Transparenz (zum Beispiel benennt der Patient offen, auf welchen Websites er Glücksspiele gemacht hat) durchgeführt wird, ist es ganz optimal. Denn das kann helfen, böse Überraschungen zu vermeiden.

Es liegt im Eigeninteresse des Patienten, sich auf diese Weise „anketten“ zu lassen. Auch Odysseus hat sich nicht selbst an den Mast gebunden. Vielmehr hat er seine Gefolgsleute angewiesen, dies für ihn zu tun. Und: Er hat sich vorab beraten lassen (von der Zauberin Kirke).

Es bleibt die Technik des Übertönens. Nehmen wir das Exempel der Spielsucht. Wir können ihr frönen, indem wir ins Kasino gehen und dort unser Geld lassen. Wir können aber auch im Internet Spiele machen – für weniger Geld oder gar umsonst (Strom außen vor gelassen).

Übertönung? Das soll den Reiz beim Kasino-Besuch ausstechen? Ja – es geht viel schneller. Und so kommen die Erfolgserlebnisse häufiger. Und manchmal in anderer Form: Größen wie „Spielstärke“ gibt es typischerweise primär im Internet. Und besser als Geldgewinne (bzw. -verluste) kann das Erreichen von Schwellwerten bei Ihrer Fähigkeit sein, Spiele zu spielen. Das gilt insbesondere für Klassiker wie Skat oder Rommé. Wenn man eine Spielstärke von 700 hat und ein Gegner (= Spielpartner, kein Gegner im wörtlichen Sinne) von 900, dann freut man sich erst Recht über einen Sieg.

Nun komme ich mir etwas merkwürdig vor – ich mache Ihnen das Spielen ja überhaupt erst richtig schmackhaft. Waren Sie bis dato diesbezüglich vollkommen unschuldig und lammfromm, dann stürzen Sie sich vielleicht jetzt gerade erst ins Getümmel und entdecken dabei, dass Sie große Freude am Spielen haben. Und ich habe das ausgelöst.

Aber so ist es nicht. Und woher weiß ich das? Nun – ich „belohne“ Sie jetzt, nachdem Sie sich durch diesen langen Beitrag gekämpft haben. Ich kombiniere dazu zwei Informationen, die normalerweise nicht breit ausgetauscht werden. Und sie enthalten eine gewisse Brisanz, weil sie nicht in einem Paket übermittelt werden.

Hier sind sie:

  • Wir entwickeln durch die Parkinson-Medikamente das als Sucht, was ohnehin (offen oder verborgen) in uns steckt.
  • Wenn wir keine Sucht verspüren, wirken die Medikamente nicht richtig (gilt für Agonisten).

Mit anderen Worten: Das teuflische ist, dass uns die Medikamente helfen, unsere eigenen Bedürfnisse verstehen zu lernen. Diabolischer geht es wohl kaum. Es ist ein faustischer Pakt. Denken Sie darüber mal nach.

Und nun, ganz zum Schluss noch eine Anmerkung zum Erkennen von Sucht. Zu dem Zeitpunkt, zu dem man merkt, dass man süchtig ist, ist es schon längst zu spät.

Im Büro habe ich bei unterschiedlichen Auffassungen zur Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen meinem jeweiligen Gesprächspartner angeboten, eine Wette abzuschließen. Der Einsatz waren meist 10 Tafeln Schokolade. Mal gewonnen, mal verloren. Aber die Wetten waren mein Spieltrieb, die Schokolade meine Esssucht – die waren immer schnell weg bei mir. Und ich musste sie immer kaufen – die Wetten waren ein gutes Argument. – das war die Verschleierung des Kaufrausches. Und wenn ich gewann, kam ich mir vor wie der Held der Welt. So viele Süchte auf einmal – aber ich habe Jahre gebraucht, um das zu erkennen.

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