In den Bergen

Der nachfolgende Beitrag erschien erstmals am 8.3.2012 auf www.parkinson-erfahrung.com.

Was Sie vorher gelesen haben sollten: Beitrag zur Wurfparabel .

Waren Sie schon mal in den Bergen? Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf dem Gpfel, den Sie bezwingen wollten.

Sie haben eine fantastische Rundumsicht; Sie können in alle Richtungen blicken; Sie können die Landschaft genießen; Sie können die nachkommenden Wanderer sehen, die noch den schweißtreibenden Teil vor sich haben, den Sie schon geschafft haben.

Aber natürlich ist auch eines klar: da Sie nicht unendlich viele Lebensmittel mitnehmen können, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem Sie diesen Gipfel, diese Spitze, diesen Zenith wieder verlassen müssen. Und Sie wissen: ab dann gibt es im wesentlichen nur noch eine Richtung:  abwärts, nach unten, in den Keller, in die Tiefe, dem Erdmittelpunkt näher, in den Abgrund, in die Schlucht. Sie können es nennen, wie Sie wollen – es ist jedenfalls nicht mehr oben. Es ist nicht mehr mit dem Rundumblick, es ist nicht mehr mit der tollen Aussicht, es ist nicht mehr die Spitzenposition.

Nun versetzen Sie sich einmal in diese Situation. Können Sie ERFÜHLEN, wie es ist? Wenn Sie jemals von einem Berggipfel, von einem Hügel, von einem Turm oder ähnlichem den Blick genossen haben, dann können Sie sich das auch sicherlich VORSTELLEN. Und dann wissen Sie auch, wie ein Parkinson-Kranker fühlt. Sie können sich so sicher ziemlich gut in ihn hineinversetzen.

Und nun denken Sie vermutlich: „jetzt kommt schon wieder das Klagelied, wie schlimm das alles ist.“. Aber ich kann Sie beruhigen. Denn das gemalte Bild (in Ihrer Fantasie) ist unvollständig. Ja, man kann sogar fast sagen, es ist falsch, oder zumindest entstellend.

Denn in Wirklichkeit ist es doch so: Schon bevor wir auf den Gipfel steigen, wissen wir, dass der Anstieg als Beispiel vier Stunden in Anspruch nehmen, der Gipfelaufenthalt circa eine Stunde und der Abstieg zweieinhalb Stunden dauern wird.  Obwohl also das Gipfelerlebnis den geringsten zeitlichen Anteil hat, machen wir trotzdem die Bergtour – und wir finden die ganze Wanderung schön. Denn natürlich gibt es auch entlang des Weges viele schöne Aussichtspunkte – und zwar sowohl beim Auf- als auch – mit anderer Perspektive – beim Abstieg.

Und das gilt für fast alles im Leben: der Musiker spielt bei einem Konzert – mit Vorbereitung und „Nachspiel“; der Schüler lernt für die Prüfung und genießt hinterher den Erfolg; das Paar schäft miteinander und genießt die Zeit vor dem Höhepunkt ebenso wie die Streicheleinheiten danach; der Tourist „erobert“ sein Reiseziel auch in Etappen; der Koch kredenzt sein Mahl auch wohlvorbereitet, so dass der Gast (und er selbst sicherlich beim „Probieren“ auch 🙂  ), es in vollen Zügen genießen kann.

Nun aber lassen wir die Gedanken ein wenig weiterschweifen .. und kehren zurück in die Berge (- oder an was haben Sie jetzt gedacht?).

Vom Gipfel aus haben wir die Aussicht genossen – aber wir haben auch gesehen, dass es ganz viele Gipfel gibt – manche sind höher, manche sind weniger hoch. Aber das Leben bereitet uns ganz viele solcher glücklichen Momente – ja, und es sind diese Momente, für die wir da sind. Und wir sollten uns auch die Zeit nehmen, sie zu erkennen. Und das ist gar nicht immer so einfach.

Vom Bergsteigen wissen wir auch folgendes: Wenn Sie einen Wanderkameraden haben, der nicht mehr kann, dann müssen wir auf ihn Rücksicht nehmen – klar. Aber, wir können ihm auch mit einem simplen Trick mit großer Effizienz helfen: Das bloße Auflegen unserer Hand auf seinen Rücken, verbunden mit einem kleinen „Push“ – etwas Schub sozusagen – wird ihm Flügel verleihen. Es sind diese kleinen Helfer, die dazu führen, dass der Gipfel erreicht werden kann.

Ich hatte viele Erlebnisse von dieser Sorte – und ich bin dafür unendlich dankbar. Es gab viele Aufmunterungen, Tipps und ähnliches. Einen Push der besonderen Art hatte ich neulich in der neurologischen Praxis. Ich kam hin, um mitzuteilen, dass L-Dopa bei mir wohl kaum noch anschlägt. Ich hatte das Gefühl, mein Zenith sei erreicht. Dann wurde ich gefragt, wann und wie ich die Medikamente nehme. Am Ende wurde mir die Empfehlung gegeben, doch die Essenszeiten nochmehr zu meiden als bisher. Ich solle doch nicht so leicht aufgeben, man könne die Medikation immer noch ändern.

Und so war es! Der vermeintliche Gipfel entpuppte sich nur als dazwischenliegender Sattelpunkt. Es ging noch weiter bergauf!

Das hat mich an meine Schulzeit erinnert: Man lernt in der Differentialrechnung, dass Hochpunkte bei Funktionen von waagerechten Tangenten gekennzeichnet sind, die erste Ableitung ist an solchen Stellen 0. Aber um den Hoch- von dem Sattelpunkt unterscheiden zu können, benötigt man die zweite Ableitung. Denn der Tangentenanstieg muss seine Richtung ändern: bei Wechsel von positivem zu negativem Anstieg hat man einen Hochpunkt, bei Wechsel von negativ zu positiv hat man einen Tiefpunkt. Einen Sattelpunkt hat man, wenn das Vorzeichen sich nicht ändert.

Die zweite Ableitung misst in der Physik – bei einem sich bewegenden Objekt – die Beschleunigung. Und genau das erklärt den Mechanismus des Handauflegens auf den Rücken – man bekommt neue Schwungkraft, weil ein Beschleunigungshelfer da ist. Das ist die Magie der Bergwanderung.

Danke an alle, die mir bisher solche magischen Momente bereitet haben. Jeder Zuspruch, und sei er noch so klein, hat dazu beigetragen.

Also – von den Bergen haben wir gelernt:

  • Manchmal trügt die Aussicht.
  • Es gibt viele Gipfel, und deshalb auch immer wieder neue zum Besteigen.
  • Hilfe kann man schon mit ganz einfachen Mitteln bieten.
  • Genieße den Moment – man lebt für ihn.
  • Auch der Abstieg hält viele schöne Aussichten bereit – aber man muss auch lernen, sie zu erkennen.