Titanic – Kitsch?
Ursprünglich erschienen Dienstag, den 30. August 2011 um 12:36 Uhr, aktualisiert Donnerstag, 23. Juni 2016 und ein weiteres Mal am 23.03.2020 und noch ein weiteres Mal am 15.08.2020 – nachdem ich den Film „Helden der Titanic“ gesehen habe |
Sie kennen bestimmt die Verfilmung des Titanic-Untergangs durch James Cameron, nicht wahr? Finden Sie den Film nicht wenigstens ein wenig kitschig? Vor allem, wenn man ihn öfter sieht, merkt man manche Hohlheit. So bestehen viele der Dialoge zwischen den beiden Helden aus „Jack?!“ oder „Rose?!“. Vor allem in der zweiten Hälfte des Films nimmt das zu, wenn die beiden schon längst durchnässt und schlotternd durch die langen Gänge des Schiffs irren. Ja, das ist ermüdend – jedenfalls ein bisschen. Allerdings gibt es inzwischen mit dem Film „Helden der Titanic“ eine sachlichere Variante. Und es gibt einige Facetten, die meines Erachtens alles andere als kitschig, ja sogar recht lehrreich sind. Lassen Sie uns vorher einen kleinen Exkurs unternehmen. Sie kennen sicherlich Selbsteinschätzungsfragen in Extremsituationen nach folgendem Muster: „Sie sehen vor sich Bahngleise liegen. Sie stehen an einer Weiche, die Sie bei heranfahrenden Zügen in die eine oder in die andere Richtung umlegen können. Nun sehen Sie weiter vorne einen Mann auf den Gleisen liegen, der von Gangstern an diese gefesselt wurde – er kann also nicht mehr weg. Und – nun wird es spannend – von der anderen Seite kommt ein Zug gefahren, der – wenn Sie nicht rettend eingreifen, indem Sie die Weiche umlegen – die gefesselte Person überfahren würde. Die Frage nun lautet: Würden Sie die Weiche umlegen?“ Nein, so kann man das Beispiel nicht konstruieren, denn natürlich ist die Antwort „ja“. In dem Beispiel fehlt etwas ganz Wesentliches – der „Preis“ Ihrer Entscheidung. Also, das was Sie bereit wären, dafür in Kauf zu nehmen. Deshalb – noch einmal von vorne: „Sie sehen vor sich Bahngleise liegen. Sie stehen an einer Weiche …“. Nein, diesen Part haben Sie natürlich schon längst verstanden. Also nur die Ergänzung: „Wenn Sie die Weiche umlegen, retten Sie zwar den an die Gleise immer noch gefesselten Mann. Aber Sie bringen damit 10 anderen Menschen den Tod.“ Nehmen wir der Einfachheit halber an – das ist ja auch ganz realistisch – die 10 anderen Personen seien an das andere Gleisende gefesselt. In diesem Fall dürfte die Antwort wohl lauten: Man nimmt lieber den Tod eines einzelnen in Kauf als den von 10 Personen.. Nun gibt es davon viele Varianten: Statt des eher „passiven“ Akts des Umlegens der Weiche (bei dem man ja nicht selbst für den Tod der an die Gleise Gebundenen sorgt) besteht die Alternative meist darin, jemanden direkt von einer Brücke zu stossen, zu erschießen oder jedenfalls ähnlich makabre Dinge ganz aktiv zu tun. Und das Ergebnis lautet meistens: Der Mensch will überhaupt nicht töten, wenn aber, dann will er sich nicht „die Hände schmutzig machen“ (es ist ihm also lieber, wenn andere die Tötung besorgen), und man „möchte“ – wenn es schon unvermeidbar ist – lieber weniger Menschen als mehr töten. Ich finde diese Experimente deshalb so „interessant“, weil viele auf die gleiche Art und Weise antworten (nach obigem Muster). Und ich finde sie deshalb so lesenswert, weil die Versuche meistens eine klare Trennung zwischen „aktiv“ und „passiv“ vornehmen, die es in Wirklichkeit im Regelfall nicht gibt, weil der Übergang letztlich doch stetig ist, also eher fließend. Sie glauben nicht an den fließenden Übergang? Dann betrachten Sie folgende Beispiele. Wer hat in diesen „aktiv“ bzw. „passiv“ getötet? Beispiel 1: Der Schießbefehl an der damaligen innerdeutschen Grenze. Wer hatte den aktiven Part und wer den passiven? Diejenigen Personen, die den Schießbefehl formuliert haben? Diejenigen Führungsoffiziere, die Ihre Leute dazu angehalten haben, ihn auch wirklich anzuwenden? Oder diejenigen Personen, die geschossen haben? Beispiel 2: Atomunfall im japanischen Fukushima. Und wer von diesen Personen hat den am meisten aktiven bzw. passiven Part am (möglichen) Tod der nahen Anwohner? Die Erbauer des Kernkraftwerks, deren Betreiber, die Regierungsverantwortlichen, die den zwar nahe, aber außerhalb der 20km-Sperrzone lebenden Anwohnern nichts über das Verstrahlungsrisiko sagen wollten? Sie befinden sich auf einer Parkinson-Website, und Sie sind gerade im Begriff, einen Beitrag über den Untergang der Titanic zu lesen. Nun haben Sie schon ein ganz schön großes Stück gelesen, aber bisher ging es überhaupt nicht um Parkinson und nur ganz kurz am Anfang um die Titanic. Keine Sorge, ich biege bald auch auf die Zielgerade ein. All die oben genanten Extremsituationen sind meines Erachtens sehr lehr- und aufschlussreich. Aber natürlich bleiben Sie theoretisch. Natürlich nicht ganz, wie die letztgenannten Beispiele zeigen. Denn es gab den Schießbefehl, und er wurde angewandt. Noch „konkreter“ wurde es auf der Titanic – dort war es so, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt der Untergang unvermeidlich war. Und irgendwann hat auch der Letzte verstanden, dass es unabwendbar sein würde. Ja, und damit sind wir dem, was meines Erachtens in dem Film durchaus nachdenkenswert ist: Wie verhalten sich Menschen im Angesicht des bevorstehenden Sinkens des Schiffes? Auf diese Frage gibt der Film sogar ganz viele Antworten. Denn es sind höchst unterschiedliche Verhaltens-, ja Verfahrensweisen, die zum Einsatz kommen.
Das ist schon eine große Bandbreite an Handlungsalternativen. Wir sollten dabei nicht vergessen: Für die meisten von Ihnen war das Ende gleich. Aber die Wege dorthin waren sehr individuell. Und man kann sehen: Man darf wirklich nicht zu früh aufgeben. Denn – das zeigt der Film gerade in den Charakteren Jack und Rose – oft kommt es genauso, wie man gerade nicht erwartet hat. Jack, der an mehreren Stellen zeigt, was er sagt – „I am a survivor“ – überlebt diesen Trip nicht. Umgekehrt findet Rose auf dem „ship of dreams“, das für sie anfänglich als Transport in die Hölle einer ungewollten Ehe erscheint, in Jack ihre Liebe und – sie überlebt. Na ja, das ist wohl doch Kitsch – aber schön! Nun schreiben wir das Jahr 2020. Ich will diesen Artikel aktualisieren. Ich bin eben den Text bis hierhin durchgegangen, habe Tippfehler entfernt (und vermutlich versehentlich neue eingebaut), einiges gekürzt, anderes etwas präziser gefasst. Damit sind die eher lästigen Arbeiten der Aktualisierung erledigt. Nun kommt das schöne Stück:: Ich frage mich aus meiner heutigen Sicht, ob der Artikel noch passt und was er mir heute – 9 Jahre nach erstmaliger Veröffentlichung – noch sagt. Dabei fällt mir als erstes auf, dass die Beispiele zur „Weichenstellung“ alle einen Schönheitsfehler haben: Es gibt keinen Bezug des Weichenstellers zu den potentiell toten Personen. Natürlich könnte es besser sein, „nur“ 1 Menschen zu töten als 10 (wenn nur das die Alternativen wären). Aber würde meine Entscheidung noch so ausfallen, wenn die eine Person mein Kind wäre? Außerdem hat vor wenigen Wochen das Bundesverfassungsgericht ein tolles Urteil verkündet, in dem auch das Recht auf den eigenen Tod gestärkt wurde. Und gerade jetzt laufen weitere Maßnahmen an, um das Corona-Virus zu bremsen, das immer mehr Tote fordert. All dies sollte ich doch einmal separat aufgreifen. |