Späte Stadien (9) – Dunkle Gedanken aus dem Off

Haben Sie Späte Stadien, Teil 8, gelesen? Dann werden Sie jetzt fragen, ob ich mich wiederhole, denn auch dort ging es um das sogenannte „Off“. Nein – das werde ich natürlich nicht tun. Hier möchte ich vielmehr einiges vom Gedankengut des vorangegangenen Teils weiterentwickeln.

Das „Off“ scheint die immer mehr dominierende Daseinsform zu sein. Ich erinnere mich daran, wie mir vor vielen Jahren ein Arzt mit einer einzigen Frage sehr viel Information zum damals aktuellen Zustand entlockte. Die Frage lautete: „Wieviel Prozent des Tages sind Sie im Off?“ Damals war meine Antwort, dass der Wert etwa bei 5% meiner Wachphase liege.

Müsste ich heute antworten, würde ich vermutlich circa 30% als Wert nennen – mit deutlicher Tendenz nach oben.

Die Änderung der Zahl sagt sicherlich schon sehr viel. Aber ebenso wichtig dürfte sein, dass sich die Qualität des Erlebnisses ändert. Insbesondere ein Aspekt tritt in den Vordergrund: Es lässt sich kaum vermeiden, dass die Gedanken und Träume negativ werden.

Wir erinnern uns: Dopamin ist ein Glückshormon. Also fühlen wir uns glücklich, wenn das L-Dopa zu wirken beginnt. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass wir – umgekehrt – in Phasen geringer Medikamentenwirkung unglücklich sind.

Und genau das ändert sich mit Fortschreiten der Erkrankung: So glücklich ich bei normaler oder übertriebener Beweglichkeit (On und Over) bin, so unglücklich bin ich nunmehr während der Off-Phasen.

Aber wie muss man sich das Unglück vorstellen? Da gibt es zahlreiche Erscheinungsformen:

  • Rationale Gedankengänge mit negativem Inhalt:

    Seit meiner Diagnose sind inzwischen mehr als 15 Jahre vergangen. Ich bin heute 55 Jahre alt. Bei einer Lebenserwartung von bescheidenen 70 Jahren habe ich also nochmals 15 Jahre vor mir – aber das sind die deutlich schlimmeren.

    Vor meinem geistigen Auge taucht der berühmte Boxer Muhammad Ali (ursprünglicher Name: Cassius Clay) auf. Er wurde 1942 geboren. Die Parkinson-Diagnose erhielt er 1984, also als er knapp über 40 Jahre alt war. Er starb 2016 als 74-jähriger. Seine Erkrankung bestand also insgesamt etwas länger als 30 Jahre. 1996, also mit etwas über 10 Jahren der Erkrankung entzündete er – sichtbar angestrengt – das olympische Feuer in Atlanta. Ich frage mich immer wieder, wie er dies so lange ausgehalten hat.

  • Albträume

    Ich strande auf einer einsamen Insel. Dort leben Menschenfresser, die sich sogar ein wenig darauf freuen, mich bald verspeisen zu können. Damit ich gut schmecke, werde ich in Öl gebraten. Aber – die Eingeborenen sind keine Unmenschen – ich habe folgende Optionen zur Auswahl. Ich kann schnell sterben: Ich komme erst dann ins Öl, wenn es siedend heiß ist. Das ist zwar unangenehm, aber es geht schnell. Oder aber der langsame Weg: Ich komme zunächst in einen Topf mit kaltem Öl, der dann langsam erhitzt wird.

    Die Entscheidung fällt schwer. Instinktiv möchte man zunächst den langsamen Weg gehen – um das Ende möglichst weit hinauszuzögern. Irgendwann aber, wenn die Temperatur im Kessel schmerzende Werte erreicht hat, möchte man umsteigen. Aber diese Option gibt es eigentlich gar nicht.

  • Selbstmordpläne

    Immer wieder denke ich über die Frage nach, wie man sich selbst „am besten“ um die Ecke bringt. Es sollte schnell gehen, möglichst ohne Schmerzen auskommen und „sicher“ sein, also eine „Erfolgswahrscheinlichkeit“ von nahezu 100% haben.

    Ich verfolge die politischen Diskussionen zur Sterbehilfe in Deutschland sehr aufmerksam. Gelegentlich kommentiere ich auch. Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts erscheint mir wegweisend. Wenn man allerdings Hilfe zur Sterbehilfe nicht will, wird man genügend Knüppel finden, die man den Proponenten zwischen die Beine werfen kann.

  • In-sich-Kehrung

    Die Umwelt interessiert einen kaum noch. Erzählt einer einen Witz, lache ich zwar mit – aber eher verhalten. Ich frage auch sehr viel weniger als ich es früher getan habe. Stattdessen rede ich lieber über mich. Viele Mails haben bei mir zahlreiche Absätze mit dem Beginn „Ich …. „.

  • Griesgrämig- und Übellaunigkeit

    Ich verströme schlechte Laune. Jeder von uns kennt das: Manchmal gibt es die ewigen Bedenkenträger und Nichts-Tun-Wollende. Die Stimmung in einer Gruppe kann noch so gut sein. Diese Leute finden in der Regel trotzdem Wege, sie zu ruinieren.

    Manchmal bin ich nun selbst so einer.

    Und das gilt vor allem – ich gestehe es, denn das ist der erste Schritt zur Besserung – wenn ich selbst gute Ratschläge erhalte, mit denen ich mein eigenes Leben einfacher machen könnte. Die Ausreden, die ich früher bei anderen so furchtbar fand, wende ich nun schon selbst an: „Das habe ich schon probiert – ohne Ergebnis. Den Gedanken hatte ich auch bereits, aber … . Das kann ja gar nicht funktionieren, weil … .“

  • Jammern

    Ein Stichwort genügt mir: Fragen nach meinem Wohlbefinden, meiner Gesundheit etc. lassen mich richtig „sprudeln“: Sehr gerne erörtere ich meine Parkinson-Probleme, suhle mich in Fachbegriffen, „erfinde“ sogar neue (z.B. „over“ für den Zustand der Überbeweglichkeit) und übertrage Konzepte nicht-medizinischer Fächer auf die Heilkunst (z.B. die Drei-Felder-Wirtschaft).

    Damit maskiere ich die Botschaft, die ich eigentlich absetzen will: „Seht her, es geht mir schlecht.“ – So würde ich das nie sagen. Aber man kann das trotzdem mit ganz anderen Worten zum Ausdruck bringen.

  • Schmerzbewusstsein

    Wenn meine Muskeln praktisch ihre Arbeit einstellen, machen sie damit andere Defizite deutlicher. Zum Beispiel sorgt Druck auf der Lunge für das Gefühl von Atemnot. Auch muss die Wirbelsäule viel mehr aushalten, da Unterstützung der Muskulatur dann fehlt. Auch ist eine Lageveränderung kaum möglich, da man nicht mehr die Kraft dafür hat.

    All dies führt dazu, dass man sich der Schmerzen, die dadurch ausgelöst oder verstärkt werden, deutlicher bewusst wird. Außerdem führt einem dies die eigene Ohnmacht sehr deutlich vor Augen.


  • Selbstvorwürfe

    Warum diskutiere ich dieses Thema hier und jetzt? Warum bin ich nicht ausreichend vorbereitet?

    Ich sage doch selbst immer, dass Parkinson einem viel Zeit lässt. Es gibt keine dramatischen Schübe, sondern einen langsam fortschreitenden Verlauf.

    Dann kann man sich ungefähr vorstellen, wie es mal wird. Ich habe schließlich auch bisher schon Off-Zustände gehabt.

    Aber warum nur habe ich die Zeit nicht genutzt, um mich vorzubereiten?

So in etwa liest sich die Sammlung der negativen Gedankenwelt, die sich in einem Off auftürmen kann. Das klingt schrecklich.

Aber man erkennt auch, dass es übertrieben ist. Woran? An mehreren Dingen:

  1. An einem ganz praktischen Problem: Dem Gang zur Toilette. Denn der war mir bis zum heutigen Tag noch immer möglich. Und ich war immer rechtzeitig da (wenn auch manchmal nur knapp). Dies zeigt: Jedenfalls noch sind Mindestreserven an Kraft da, um „wichtige“ und „dringende“ Dinge zu erledigen.
  2. Es stimmt nicht, dass ich nicht vorbereitet bin – ganz im Gegenteil: Schon seit langer Zeit organisiere ich mir die Inhalte, die ich mir in Off-Phasen zu Gemüte führen will. Zum Beispiel habe ich eine recht ansehnliche Liste von Dokumentarfilmen angelegt, die ich gerne sehen würde.
  3. Ich war früher schon ein Sportmuffel – und ich bin es noch. Umso wichtiger, dass ich mir ein Umfeld geschaffen habe (ebenfalls Erkrankte, Vereine, Mitleidende), das mich zu sportlicher Aktivität animiert. Das ist zwar nicht immer von Erfolg gekrönt – aber das ist ja kein Problem.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich will damit die wirklich unangenehme Situation eines Offs nicht herunterspielen. Es ist wirklich ein übler Zustand. Aber man sollte auch realistisch bleiben: Manches geht doch noch, wenn man ein wenig darüber nachdenkt, es richtig zu organisieren.

Kann man etwas gegen die Trübsal tun? Ja. Die vermutlich beste Maßnahme ist, dass man für Ablenkung sorgt – oder aber die Zeit des Offs dazu nutzt, sich auszuschlafen.

Ablenkung kann zum Beispiel durch Radio oder Fernsehen erfolgen oder durch Videoportale. Wichtig ist, dass man auch die Technik kennt und nutzt, die man zum Auffinden des Materials entsprechend der eigenen Wünsche hat. Also die Mediaplayer (können Sendungen zu einem beliebigen Zeitpunkt wiedergeben.) Und in Videoportalen die sogenannten Playlists. Das sind Sammlungen von Videos, die man zusammengestellt hat, z.B. nach Themengebiet oder Verwendungszweck. Sie sollten dafür sprechende Namen vergeben, z.B. „für Tage im Bett – Dokus Geschichte“, aber nicht einfach numerieren, weil man dann die Systematik schnell vergisst.

Übrigens ist es etwas anderes mit dem Lesen: Obwohl ich so gerne in Büchern schmöckere, empfehle ich dies hier nicht – jedenfalls nicht für die Offs. Denn dies könnte ein Quell weiterer negativer Gedanken sein: Wenn man die Kraft nicht hat, ein Buch zu halten oder gar überhaupt eine Seite umzublättern, führt einem dieses gerade die unangenehmen Seiten des Parkinson vor Augen.

Schlaf ist ebenso eine gute Möglichkeit. Man holt Versäumtes nach. Einzige Gefahr dabei ist, das man Albträume hat.

Und dann gibt es noch einen wunderbaren Punkt: die Aufregung über das politische Geschehen in der Welt. Für jeden von uns immer ein Quell für Verdruss – und wir alle können mitreden – an fiktiven Stammtischen, im Parlament oder sonstwo. Daraus lässt sich ein Kopfkino erzeugen, dass einen die Gesundheit vergessen lässt. Man muss sich nur genug hineinsteigern und schon ist man in Rage – probieren Sie es!

Man kann also durchaus gegen die negativen Gedanken angehen.

Es bleibt ein letzter Punkt zu erwähnen. Da Offs recht lange dauern können und im Zeitablauf gehäuft auftreten, sollte man absehbare Tätigkeiten schon vorher erledigt haben. Ein Beispiel dafür ist das abendliche Zähneputzen. Oder die Vorbereitung der Tabletten für den nächsten Tag. Wenn man bis zuletzt wartet, ist man vielleicht schon schlecht beweglich. Also sollte man den Pflichtteil schon vorher erledigt haben.

Quellen

https://de.wikipedia.org/wiki/Muhammad_Ali#Parkinson-Krankheit_und_Tod

Einige Angaben wie zum Beispiel das Geburtsjahr finden sich im gleichen Wikipedia-Artikel, aber nicht in diesem Abschnitt.