Ungerechtigkeit? – Frage der Lebenszeit

„Warum ich?“ lautet eine Frage, die sich wohl viele Parkinson-Kranke stellen. Ist es nicht ungerecht, dass es mich getroffen hat?

Das Ergebnis dieser Überlegungen dürfte heissen: „Ja, es ist ungerecht – ich bin noch so jung, aber ich muss jetzt schon Einbußen an Lebensqualität hinnehmen. Damit hat sich meine schöne Lebenszeit doch dramatisch verkürzt!“

Es wird also implizit unterstellt, dass es gerecht wäre, wenn alle Menschen die gleiche Lebensspanne hätten, ohne gesundheitlich beeinträchtigt zu sein.

Ist das richtig?

Nehmen wir ein anderes Beispiel: Sie haben zwei Mitarbeiter im Büro, die für Sie arbeiten. Z.B. könnte es sich um Programmierer handeln, die helfend tätig werden.

Nun stellen Sie sich vor, beide erhalten die exakt gleiche Aufgabe, die spätestens am abend des betreffenden Tages erledigt sein sollte. Bei erfolgreicher Erledigung gibt es einen kleinen Geldbetrag (z.B. 100 EUR) als Entlohnung. Und nun nehmen wir einmal an, einer der beiden braucht zur Erledigung der Aufgabe einer Stunde, der andere dagegen fast den ganzen Arbeitstag, nämlich circa sechs Stunden.

Wann lassen Sie diese Mitarbeiter nach Hause gehen? Würden Sie den schnelleren dann im Büro 5 Stunden lang (6 minus 1) warten lassen, bis der andere fertig ist? Oder würden Sie zu ihm sagen: „Du hast es verdient, schon nach einer Stunde nach Hause gehen zu dürfen – denn Du hast Deine Arbeit erfolgreich in nur einer Stunde absolviert.“?

Also: Wann hat man sich die 100 EUR verdient? Sie werden zustimmen, dass es jedenfalls nicht für die geleistete Arbeitszeit ist.  Vielmehr zählt das erfolgreiche Bewerkstelligen eines bestimmten Arbeitsergebnisses.

Wenn hier die Arbeitszeit nicht der richtige Bewertungsmassstab ist, wieso kommen wir dann auf die Idee, dass es die Lebenszeit sein könnte, die als Bewertungsmaßstab für „Gerechtigkeit“ genommen wird? Vielleicht hat man seine Lebensaufgabe schon „erledigt“? Dann kann man „nach Hause“ gehen.

Nicht, dass ich mißverstanden werde: Ich will nicht sagen, dass der Ausbruch einer Krankheit gerecht sei, weil irgendjemand seine Lebensaufgabe schon erledigt hätte. Ich möchte nur zum Ausdruck bringen, dass die Benutzung der Lebenszeit als Maßstab genauso ungeeignet ist wie vermutlich jede andere denkbare Bewertungsgröße.

Also: Es ist müßig, nach Recht oder Unrecht zu fragen – diese Begriffe passen einfach nicht auf diese Situation.

Gerade als Parkinson-Kranker sollte man die Logik sogar umkehren: Das Fortschreiten der Krankheit geht normalerweise sehr langsam vonstatten. Deshalb ist es wichtig, die ersten – noch vergleichweise harmlosen – Jahre gut zu nutzen. Man sollte Reisen durchführen, die man schon immer machen wollte, sich mehr mit seinen Lieben abgeben, Konzerte besuchen, Bücher lesen und viele ähnliche Dinge mehr! Es sollte noch einmal eine Zeit des Aufbruchs werden. Das klingt schwer nach einer niederschmetternden Diagnose – und das ist es auch. Aber gerade deshalb ist es so wichtig!