Späte Stadien (11) – Guten Morgen, liebe Sonne

Vor einigen Jahren erzählte ich einer Freundin vom frühmorgendlichen Aufstehen. Das ist stets ein besonderer Moment. Denn wohl zu keinem Zeitpunkt im Tagesverlauf hat man so wenig Medikation im Körper wie dann. Nachts wird natürlich auch L-Dopa verbraucht, aber im Schlaf nimmt man keine Tabletten. Also ist man am Tiefstand angekommen.

Ich schlage die Augen auf. Ich brauche eine Weile zur Orientierung. Irgendjemand oder -etwas hat mich geweckt. Ein Geräusch, die Notwendigkeit zum Aufsuchen einer Toilette, das Bedürfnis meines Körpers nach einer Tablette oder sonst etwas.

Ich brauche einige Sekunden, bis ich weiß, was mir nun bevorsteht. Der Vorgang geht zu meinem Erstaunen immer noch schnell. Er dauert nur wenige Minuten. Aber obwohl mir das bewusst ist, muss ich nun erstmal Mut und alle Kräfte sammeln, um die folgenden Schritte auszuführen. Denn zum einen bin ich am ganzen Körper so steif, dass ich mich kaum drehen kann. Und zum anderen werde ich Schmerz ertragen müssen. Dieser entsteht im Bereich der Lendenwirbelsäule. Es ist eine Folge meiner ständigen Schiefhaltung. Wenn ich beweglich bin, ist dieser Schmerz kaum vorhanden, weil die Muskulatur die Tragearbeit der Wirbelsäule unterstützt. Aber genau dieser Muskelapparat ist nun schon einige Stunden ohne Tabletten und deshalb gerade keine Hilfe.

Als erstes versuche ich herauszubekommen, wie stark der Schmerz an diesem Tag ist. Das schwankt zum Teil stark. Es hängt davon ab, wie verdrillt ich im Bett lag, ob meine Arme oder Beine Gefühl haben oder taub sind. Der Test ist ganz einfach: Ich winkle ein Bein an. Die Rückmeldung aus dem Rückenbereich sagt mir entweder, dass dieses Aufstehen eine Qual sein wird – oder eben nicht bzw. nur lästig.

Und dann geht es los. Betrachten wir zur Vereinfachung den Fall, dass das Bett auf Bodenhöhe ist, also eine Matratze, ein Futon o.ä. Dann muss ich nun – die Beine wieder gerade gestreckt – den Oberkörper hochdrücken und mich quasi aus dem Bett rollen. Das geht erstaunlich gut. Ich krabbele dann zu einer Konstruktion, die ich den „Turm“ nenne. Eine Ansammlung gestapelten Materials, an dem ich mich festhalte und hochziehe. Das ist nicht schwer. Nur die Stellen sind problematisch, an denen ich Positionsänderungen am Rücken vornehmen muss.

Nun ist es fast geschafft. Ich stehe. Mit Trippelschritten zur Brille. Dann ins Bad. Und dann die große Belohnung: die erste L-Dopa-Tablette des Tages. Setzen und Warten, bis sie wirkt. Etwa nach einer halben Stunde die Tagesration an Tabletten: Agonist, MAO- und COMT-Hemmer. All diese wirken 24 Stunden (siehe dazu unten Anmerkung 1).

Nun vergeht etwa nochmals eine halbe Stunde, bevor ich voll beweglich bin. Zeit für Frühstück.

Und Sie werden sich vermutlich fragen, warum ich Sie so ausführlich an diesem Ablauf teilhaben lasse.

Mir ,scheint diese Verfahrensweise für mich durchorganisiert. Man kann daraus lernen, was man überhaupt optimieren kann.

  • Man sollte die Tabletten für den folgenden Morgen schon am Abend bereitstellen, so wie sie eingenommen werden. Denn bei schlechter Beweglichkeit am Folgetag ist es eine Tortur, auszupacken und abzählen zu wollen.
  • Es mag erstaunen, dass ich keinen Nachttisch verwende, auf dem ich etwas zu trinken und Tabletten bereitstelle. Dafür habe ich folgende Gründe. Wie viele Parkinson-Patienten habe ich gelegentlich handlungsintensive Alpträume. Ich habe phasenweise Tabletten hinuntergeworfen, eine Brille zerschlagen und ähnliches mehr. Deshalb bewahre ich nunmehr alles so auf, dass ausreichend Sicherheitsabstand gewahrt ist. ein weiterer Grund: Ich bin beim Aufwachen so schlecht beweglich, dass ich ein Trinkgefäß nicht in geeignete Position bekäme.
  • Mittel- bis langfristig kann die Anschaffung einer Vorrichtung, die ein Herausfallen aus dem Bett verhindert, sinnvoll sein. Denn man ist einerseits über weite Strecken im Schlaf praktisch bewegungslos. Andererseits gibt es durchaus Phasen, in denen man sich (unbewusst) stark bewegt.
  • Ebenso mag die Anbringung eines Griffes zur Erleichterung des Aufstehens nützlich sein.
  • Ob jedermann einen „Turm“ braucht, um sich daran in aufrechte Position zu ziehen, bleibe dahingestellt.
  • Alle diese Punkte sollte man rechtzeitig vorbereiten: Utensilien wie Griff oder Herausfallschutz kann man frühzeitig anschaffen. Bewegungsabläufe sollte man einüben.