Ode an die Freude

Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 14. September 2011 auf dem Vorgängerdomain.

Kennen Sie die Symphonien von Beethoven? Es sind insgesamt neun an der Zahl und ich habe einmal als kleines Kind gelernt, dass insbesondere diejenigen mit den ungeraden Zahlen zu den schöneren und bekannteren gehören.

Heute bin ich diesbezüglich anderer Auffassung: Zwar ist zum Beispiel die 5. Symphonie besonders schön. Ihr Beginn hat wohl Weltgeschichte geschrieben. Fast jedes Kind kennt die beginnenden Paukenschläge dieses Werks.

Aber auch geradzahlige symphonische Werke sind ein Hörgenuss: Beispielsweise die 6. Symphonie, in deren Musik das Leben auf dem Lande dargestellt ist. Darin gibt  eine besonders eindrückliche Szene dargestellt: Ein aufziehendes Gewitter. Man hört, wie es heranzieht, schrille, pfeifende Töne künden von dem bevorstehenden Wetterschlag, dann kommt die große Entladung mit mehrfachem Donnergrollen, bevor es wieder von dannen zieht – und die Party weitergeht. Und auch die 4. erscheint mir als großer Hörgenuss, insbesondere mit ihrem ersten Satz – ebenfalls gradzahlig.

Aber mein eigentlicher Favorit ist die 9. Symphonie. Diese ist vielleicht die Bekannteste auf der Welt, weil Beethoven hier das erste Mal einen Chor eingesetzt hat, der eine Symphonie begleitet, eine Sensation in damaliger Zeit.

In der Tat ist der Erfolg der 9. Symphonie wohl kaum zu überbieten. Beispielsweise wird in Japan alljährlich – meistens zu Neujahr – in der großen Sumo-Halle in Tokio die 9.te mit circa 5.000 Sängern aufgeführt. Auch gibt es Aufführungen mit bis zu 10.000 Sängern. (Die große Anzahl der Sänger sagt nichts über die Qualität – aber über die Begeisterung über dieses Werk.)

Was hat all dies aber mit Parkinson zu tun? Wenn man die Merkmale der Beethoven-Symphonien über die Zeit anschaut, sieht man eine stete Entwicklung: Klingt die erste noch ganz ähnlich wie eine eher zartere Mozartkopie, wird seine Musik im Zeitablauf immer imposanter und majestätischer, ja dramatischer.

Man kann dieser Entwicklung förmlich zusehen – und er hat diese sicherlich auch so wahrgenommen. Kurzum: er hatte sein Talentfeld entdeckt, und er wusste sicherlich, dass er auf weltmeisterlichem Niveau komponieren konnte.

Wie muss es ihm da ergangen sein als er begann, etwas Störendes wahrzunehmen? – Er verlor schleichend sein Gehör.

Musste es ausgerechnet das Gehör sein? In einer Zeit, als Komponisten typischerweise auch Dirigenten, Solisten und Konzertmeister in einer Person waren? In vielen Fällen wurden die Uraufführungen von den Schreibern der Stücke selbst dirigiert.

Seine Taubheit kam sicherlich schleichend – man beginnt, einzelne Fragmente nicht mehr zu hören. Dann werden es immer mehr. Es kommt langsam, aber sicher über einen. Am Anfang hört man vielleicht einfach schwächer, später kann man irgendwann bestimmte Passagen gar nicht mehr hören.

Stellen Sie sich das einmal vor!

Ihre Lieblingsbeschäftigung ist das Malen – aber Sie können nichts mehr sehen.

Ihre Lieblingsbeschäftigung ist das Kochen – aber Sie können nichts mehr schmecken.

Ihre Lieblingsbeschäftigung ist der Sport – aber Sie können sich nicht mehr bewegen.

Wie geht Beethoven damit um? – „Jetzt erst recht!“ – So wirkt es jedenfalls. Er schreibt seine „Neunte“, die unbestrittene Krönung seines Werkes.  Und noch mehr: Er verwendet einen Liedtext mit dem Titel „Ode an die FREUDE“! Dieser stammt aus einem schon damals berühmten Gedicht von Schiller.

Also ausgerechnet jemand, der sein Leben lang musiziert hat und Musik selbst geschrieben hat und darüber hinaus während dieser Zeit sein Gehör verloren hat, genau diese Person schreibt eine Symphonie, die mit einem Chor endet, der Textpassagen enthält, wie beispielsweise: „Freunde, nicht diese Töne, sondern FREUDENVOLLERE lasst uns anstimmen.“ Und es heisst weiter: „Laufet Brüder, Eure Bahn, FREUDIG wie ein Held zum Siegen.“

Wie ist das möglich? Nun, offensichtlich war er so gut, dass er sich die Töne in seiner Fantasie vorstellen konnte. Dies kompensierte wohl einen gewissen Teil seiner fortschreitenden Taubheit.

Natürlich ist es Spekulation. Aber ist dies nicht eine Aufforderung für alle mit solchen oder ähnlichen Einschränkungen? Das sind Behinderte, Berufsunfähige oder auch ganz normale Leute, die bestimmte Fähigkeiten eingebüßt haben, die sie früher einmal hatten. Ist dies nicht die Aufforderung, letzten Endes dafür Sorge zu tragen, dass es trotzdem gut weitergeht und dass man das, was man an Fähigkeiten noch hat, weiter zu nutzen?

Wenn es je einen glaubwürdigen Appell gegeben hat, weiterzukämpfen, dann ist es dieser!

Übrigens führte die Taubheit bei ihm auch zu sozialer Isolation. Er hatte zunehmend Probleme, weil er zu vielen Verrichtungen seines täglichen Lebens nicht mehr imstande war – etwa zum Klavierspiel. Das Dirigieren der Uraufführung der Neunten war beispielsweise reine Show – das Orchester folgte in Wirklichkeit dem Hilfsdirigenten. Selbst den tosenden Zuschauerbeifall konnte er nicht mehr HÖREN. Er wurde an den Schultern gepackt und umgedreht, so dass er ihn wenigstens SEHEN konnte – stellen Sie sich diese Szene einmal vor!

Die Dramatik von Beethovens Zunahme seiner Schwerhörigkeit geht übrigens noch weit über das hier Beschriebene hinaus. Wenn Sie dazu mehr lesen möchten, kann ich nur den ausführlichen in den gleich folgenden Nachweisen enthaltenen Artikel von. Hans-Peter Zenner empfehlen.

Hier noch die Beleglinks zu einigen meiner Ausführungen:

[table “” not found /]