Späte Stadien (18) – Phase der Emotionalität

Technische Vorbemerkung

Ich wollte in eine Art Tagebuchmodus wechseln, um auf diese Weise an den Änderungen näher dran zu sein, die die Erkrankung bei mir verursacht.

Aber man konnte schon ahnen, dass das scheitern würde. Zum einen fasste ich die Einträge mehrerer Tage doch unter thematischen Überschriften zusammen. Und: Es gab riesige zeitliche Lücken (zu denen im Hintergrund ganz viel passierte).

Kurzum: Ich habe mein eigenes System selbst ausgehebelt. Ich werde deshalb zum ursprünglichen Modus zurückkehren – das Thema bleibt das inhaltliche Leitmotiv, nicht das Datum zählt.

Die Tagesprotokolle werde ich auch thematisch umsortieren – irgendwann, irgendwie.


Parkinson ist immer wieder für eine Überraschung gut. In dem Moment, in dem es einen trifft, merkt man nur, dass etwas Fundamentales passiert ist. Man kann es nicht einordnen. Es braucht eine Weile, bis man überhaupt annähernd versteht, was geschehen ist.- Und im Zeitablauf versteht man, dass man tiefer als früher einen Blick in die Hölle getan hat,

Bei mir ist das jetzt zum zweiten Mal geschehen.

Das erste Mal

Das erste Mal war nach circa 10 Jahren mit Parkinson:: Impulskontrollstörungen durch die zu schnelle Steigerung der Tagesdosis meines Dopaminagonisten. Sie erinnern sich vielleicht an meine wichtigsten Empfehlungen. Deren erste besagt, man solle sich erst dreimal umdrehen, bevor man die Tagesdosis eines Agonisten hochsetzt. Dabei müsse man prüfen, ob man wirklich eine dauerhafte Verschlechterung seines Zustandes erlebt hat, die ein Hochsetzen der Tagesration erforderlich macht.

Störungen der Impulskontrolle lassen einen dumme Dinge machen. Man gibt seinen Wohnungsschlüssel zum Beispiel einem Obdachlosen, den man gerade kennengelernt hat. „Damit Sie sich über das Wochenende mal richtig satt essen und ausschlafen können.“ Und man weiß von dieser Person nichts – keinen Namen, keine Telefonnummer. Aber man fühlt sich als Held der Welt:. „Wenn jeder so den Armen helfen würde.“ – Und erst Stunden später realisiert man, welche Gefahren in so einem Vorgehen stecken. Und man kämpft um den Rückerhalt des Schlüssels.

Dies erschüttert einen in Mark und Bein. Denn wenn man schon in einem solchen Fall nicht mehr klar sortieren kann, welche Handlungen Risiken bergen und welche nicht, wie soll es dann bei komplexeren sein? Als ich damals meinem Neurologen diese Geschichte erzählte, spürte ich die Alarmglocken schrillen: „Der Agonist muss raus – schnell.“

Es hat mich selbst verändert. Ich stimme mehr ab, bevor ich entscheide.

Auf ewig wird die Frage an mir nagen, wie ein Medikament so eine Macht über mich bekommen kann.

Das zweite Mal

Weitere circa 10 Jahre später: Nun gerade bin ich wieder überrumpelt worden. Wieder war es so, dass ich eine Weile brauchte, um zu verstehen, dass das ein belastendes Problem darstellte.

Schon immer hatte und habe ich Träume und Albträume. Und wie bei jedem Menschen werden diese auch dazu genutzt, Erlebnisse des Alltags zu verarbeiten.

Aber dieses Mal war es anders: Dieses mal waren die Inhalte grausamer, sie dauerten länger – jedenfalls gefühlt – und sie waren teilweise mit realen Aktivitäten (im Schlaf) verbunden.

Gleich der erste Traum zeigte mir, wie lange solche Schauspiele gehen können: Ich lag im Krankenhaus – und wurde nie entlassen.. Immer, wenn ich dachte, ich sei genesen und könne die Klinik verlassen, gab es noch weitere Untersuchungen oder Behandlungen. Und selbst, wenn ich in einer Sektion fertig war, gab es noch etwas in einem anderen Bereich zu klären.. Ich rannte von Pontius zu Pilatus, um endlich entlassen zu werden.

Ich hatte auch Fallträume. Bei dem ersten davon hatte ich mich aus dem Bett katapultiert. Mir ist das dumpfe Geräusch gut in Erinnerung, als mein Kopf auf den gefliesten Steinboden aufschlug. Seither benutze ich Bettgitter oder um das Bett herumdrapierte Kissen und Decken. Oder ich stelle am Fuß- beziehungsweise Kopfende Stühle auf, die ein Herausfallen oder -kommen verhindern.

Und wieder stehe ich vor dem Spiegel und frage mich, wie sehr sich meine Persönlichkeit durch Parkinson geändert hat.

Medikamentös wurde der Agonist herausgezogen. Von 18 mg auf 1 mg – ja, Sie lesen richtig! Ich hätte nicht gedacht, dass eine solche Reduktion möglich ist. Aber wenn ich etwas wirklich will ..,. Aber ich will nicht verhehlen, dass es offenbar auch andere Substanzen gibt, die Albträume verursachen.

Und: Es klingt so großartig, wenn ich die Reduktion des Agonisten beschreibe. Aber alles hat seinen Preis. Den Agonisten kann man natürlich nur reduzieren, wenn man den Anteil L-Dopa erhöht. Damit verliert man den glättenden Effekt des Agonisten. Man kommt so leichter ins Zittern.. Außerdem ist das Gehen nicht so flüssig.

Der Mechanismus scheint zu sein, dass bei zu geringem Dopaminspiegel das Gefühl entsteht, dass eben kein „Glück“ da ist. Das wird versucht im Schlaf zu verarbeiten. Und für den Schlaf werden Zeiten reserviert, zu denen keine Zufuhr an Medikamenten vorgesehen ist (damit man schlafen kann). Das kann man am Beispiel meines eigenen Medikationsplanes sehen: Beginn ist um 6 Uhr, Ende ist um 22 Uhr. Die 8 Stunden zwischen 22 und 6 Uhr des Folgetages bleiben also frei von Medikamenten. Nicht ganz, denn als letzte Tablette des Tages nehme ich eine L-Dopa-Retard.

Alles in allem betrachtet keine schönen Aussichten. Aber wenn es gelingt, den Dopaminspiegel möglichst hoch und stabil zu halten, lassen sich dese Effekte wenigstens klein halten.