Preis der Ungeduld
An amerikanischen Business Schools, also den Universitäten für Management und Betriebswirtschaft, spielen Studenten irgendwann einmal das sogenannte beer game („Spiel des Bieres“ – siehe die Links unten bei den Nachweisen). Dabei geht es um Eigenschaften von Lieferketten.
Mehrere Teams treten gegeneinander an. Simuliert wird eine Bierkneipe, die einen bestimmten Nachfragestrom nach Bier hat, und eine Kette von vorgeschalteten Lieferanten. Die Lieferanten sind mehrstufig organisiert, also Lieferant 1 beliefert Lieferant 2 usw. bis hin zur Kneipe, die die Endkunden beliefert. Kosten fallen an für Lagerhaltung und für nicht befriedigte Aufträge. Gespielt wird über mehrere Perioden. Sieger ist das Team, dem es gelingt die Kosten am niedrigsten zu halten. In jeder Runde werden Bestellungen an den jeweiligen Lieferanten gegeben und gleichzeitig möglichst viele Bestellaufträge des nächsten erledigt (ausgeliefert).
Es gibt zahlreiche vereinfachende Annahmen. Endkunden warten beliebig lange auf ihr Bier (jede Periode des Wartens kostet aber – in der Regel ist ein noch nicht erfüllter Nachfragewunsch doppelt so teuer wie Lagerhaltung). Es gehen weder Bestellaufträge noch Lieferungen verloren (es kommt also nur auf das reale und erwartete Nachfrageverhalten der Beteiligten an). Es gibt keine Kommunikation zwischen den Teilnehmern der Lieferkette außer den Bestell- und den Lieferzahlen (eine Einschätzung des Nachfrageverhaltens ist also nur möglich durch über die Zeit aufgebaute Erfahrung).
Wenn Sie sich ein wenig in diese Situation eindenken (stellen Sie sich vor, Sie seien der Lieferant auf der vorletzten Stufe hin zur Kneipe – wie würden Sie bestellen?), dann können Sie vielleicht das Ergebnis schon erahnen. Die Bestellmengen tendieren dazu, sich hochzuschaukeln. Das erscheint auch logisch: Es ist viel Unsicherheit im System. Es wird immer wieder einmal passieren, dass ein Vorlieferant dringend benötigte Ware nicht liefert und einen so im Regen stehen lässt. Zur Reduktion dieser Unsicherheit tendieren alle Lieferanten und die Betreiber der Kneipe dazu, sich Sicherheitspolster zuzulegen. Lieber hat man überhöhte Lagerbestände als dürstende Kunden.
Übertragen wir diese Erkenntnisse einmal auf die Versorgung eines Parkinson-kranken Hirns mit L-Dopa bzw. Dopamin.
Zu Beginn der Medikamenteneinnahme ist die Vorhersage des Effektes einer Tablette noch ziemlich gut. Man nimmt seine Pillen, trinkt ein wenig Wasser hinterher und verspürt nach 20-40 Minuten den Eintritt der Wirkung. So wird der gesamte Tagesablauf gut planbar.
Aber im Lauf der Jahre wird die Sache komplizierter. Bei Retardpräparaten ist in der Regel nicht immer klar, wann diese „feuern“. Außerdem wird der Cocktail an Medikamenten immer diverser. Unterschiedliche Klassen von Medikamenten kommen möglicherweise zum Einsatz. Zusätzlich machen sich externe Effekte immer mehr bemerkbar: Wie war der Schlaf? Was und wieviel wurde wann gegessen? Wann hat man etwas getrunken? Wann hat man sich aufgeregt oder sonstigem Stress ausgesetzt? Wie gut nimmt der Körper ein Medikament noch auf? Etc. etc.
All dies führt dazu, dass auch wir Parkinsonkranke dazu tendieren, mehr einzunehmen als manchmal vonnöten. Bei Auftreten eines langen Offs nehmen wir eine bestimmte Tablettenration als Gegenmaßnahme, warten den Zeitraum ab, den es normalerweise dauert, bis diese wirkt, geben noch etwas Zusatzzeit obendrauf – und werden dann aber ungeduldig, wenn noch immer keine Belebung fühlbar ist. Dann werfen wir Tabletten nach. Aber möglicherweise tritt noch immer keine Wirkung ein. Wir werfen noch einmal nach. Irgendwann tritt endlich der Effekt ein. – und verkehrt sich gar schnell ins On, aber mit Überbewegungen – ich nenne diesen Zustand „Over“. So ändert sich unser Zustand manchmal binnen weniger Minuten von fast völliger Bewegungslosigkeit in starke Überbewegungen. Und da wir recht viel „getankt“ haben, kann die Zappelphase tweilweise sehr lange anhalten.
Das Bierspiel lehrt uns, dass man schnell dazu tendiert, zu stark zu reagieren. Deswegen ist die beste Abhilfe das Aufstellen von Regeln: Wieviel L-Dopa darf ich maximal einnehmen – mit einer einzigen Gabe, binnen einer Stunde, binnen zwei Stunden? Es ist manchmal sehr, sehr schwer, das zu beherzigen. Denn die Unbeweglichkeit eines Offs ist nicht leicht zu ertragen. Da das Denken noch funktioniert, malt man sich dann aus, was man hätte tun können – wäre das Off nicht da.
Um das Denken aber nicht zu sehr mit dem Ertragen des Offs zu beanspruchen, gibt es dagegen eine gute Abhilfe – legen Sie sich schlafen. Schlaf tut immer gut.
Nachweise