Agonisten und ihre Nebenwirkungen – Impuls-Kontroll-Störungen

Wenn Sie den einführenden Artikel über Agonisten gelesen haben oder sich bereits sonstwie mit Parkinson-Medikation befasst haben, dann kennen Sie Impuls-Kontroll-Störungen als einen möglichen Nebeneffekt, der nach jahrelanger Einnahme entstehen kann. Es sind in der Regel Suchterscheinungen, die auftreten können: Der Drang zu übertriebenem Kaufen, ständiger Computerbeschäftigung oder eine übertriebene Neigung zur Sexualität oder zum Glücksspiel, um nur einige Beispiele zu nennen.

Das Problem all der so begangenen Handlungen ist, dass diese vom  Patienten kaum willentlich kontrolliert werden können und dass ihre Konsequenzen für einen selbst oder für andere schädlich sind. Der Spielsüchtige verzockt einen beträchtlichen Teil seines Vermögens oder türmt große Schuldenlasten auf, der Computersüchtige verliert den Bezug zu anderen Menschen – jedenfalls kann es in manchen Fällen soweit kommen.

Umso wichtiger ist es – für Patienten, aber auch für alle, die sich um diese sorgen (Angehörige, Kollegen, Freunde etc.) -, über diese Sachverhalte Bescheid zu wissen.  Denn nur so können diese erkannt werden, damit dann Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können.

Grau ist alle Theorie. Deshalb möchte ich hier einige konkrete Beispiele vorstellen. Erschrecken Sie nicht: alle entstammen der Realität – kein einziges ist fiktiv. Freilich habe ich zum Schutz der Beteiligten einige Einzelheiten verfremdet, ohne den grundlegenden Charakter des Beispiels zu verfälschen. Ich danke an dieser Stelle all denen, die mir diese Beispiele zur Verfügung gestellt haben.

Sollten Sie, lieber Leser, noch weitere ergänzen können und wollen, schicken Sie mir gerne eine E-Mail. Sofern mir Ihr Beispiel geeignet erscheint, werde ich dieses gerne in die Liste aufnehmen.

 

Der Rollerfahrer – dies sind seine Gedanken

Eigentlich ist eine tolle Idee: wenn man nicht mehr so gut laufen kann, hilft vielleicht ein Tretroller. Er übertüncht die eingeschränkte Fähigkeit zu laufen und erzeugt sogar das Bild eines jugendlichen, forschen Dynamikers – wer will schon nicht so wahrgenommen werden?

Darüberhinaus hat der Roller andere nützliche Eigenschaften: Man kann zum Beispiel Einkaufstüten an den Griffen befestigen und so einiges mehr „schleppen“ als es mit bloßen Händen der Fall wäre. Als Gedanke kommt deshalb vielleicht noch hinzu: Wieso sind die Rollerhersteller nicht in der Lage, diesen Verwendungszweck zu sehen und die Roller so umzurüsten, dass sie für dieses Einsatzfeld noch besser geeignet wären? Es wäre doch so einfach: Gegengewicht zu den schweren Tüten vorne durch Beschweren des Rades hinten, Erweiterungsgriff oberhalb der Lenkstange, an dem man zusätzliche Tüten aufhängen kann, Ummantelung aller „scharfer“ Stellen an der Lenkstange (das ist insbesondere der Hebel zum Ausziehen) mit einem Gummi (damit die Tüten nicht aufgerissen werden), Anbringung einer Befestigungsmöglichkeit für einen kleinen Korb – das wäre doch das Super-Instrument als „Einkaufsroller“ von morgen. Und auch für die Vermarktung kann man tolle Ideen entwickeln.

Wenn Sie, lieber Leser, ein Mitarbeiter eines Rollerherstellers sind, der diese Idee für den Einsatz toll findet und umsetzt, dann vergessen Sie den Autor dieser Website bitte nicht und belohnen ihn mit einer Umsatzbeteiligung an den zu diesem Zweck aufgemotzten, mehr verkauften Roller.

Aber noch viel besser ist die „Rolle des Rollers“ (ist es nicht toll, welch kreative Wortschöpfungen durch die Parkinson-Medikamente möglich werden?) als Instrument zum „Austoben“! Wenn die Tablettendosis gerade niedrig und man selbst deshalb unbeweglich ist, schaut man am besten Dokumentationssendungen im Fernsehen (ZDF info, Phoenix und N24 sind hervorragend geeignete Sender) oder bei youtube im Internet. Oder man liest. Was aber macht man, wenn man überbeweglich ist? – Ganz einfach: man baut die überschüssige Energie ab, man läßt sie raus.

Auch dafür ist der Roller hervorragend geeignet. Denn man braucht schon ein bisschen Kraft, um ihn in Gang zu setzen. Vor allem ist er auch noch leise – wenn man also nachts nicht schlafen kann (eine andere potentielle Nebenwirkung der Parkinson-Medikamente), kann man mit ihm nachts umher fahren, ohne andere aufzuwecken. Das macht Spaß und stört niemanden!

Und dies läßt sich noch steigern: Haben Sie eine Idee, wie? Ja, Sie brauchen für möglichst schnelle Fahrten vor allem langen, glatten und somit möglichst reibungsfreien Untergrund. Wissen Sie, wo es den gibt? – In S-Bahn-Stationen und Tiefgaragen. Aber natürlich ist klar, dass man ja niemanden gefährden will – insbesondere will man niemanden umfahren. Das ist bei einer S-Bahn-Station leicht gesagt, aber kaum zu schaffen – es sei denn, man fährt nachts, wenn keine oder jedenfalls kaum eine S-Bahn unterwegs ist. Da kommt einem die Schlaflosigkeit ja optimal zupass! Man gleitet mit einem Affenzahn über den glatten und vor allem herrlich langen Boden einer S-Bahn-Station. Es ist zwar nicht ganz so, aber in Ihren Träumen und Vorstellungen kommt man der Szene des Films „Titanic“ nahe, in der die beiden Liebenden mit ausgebreiteten Armen am Bug des Schiffes stehen – in ihrem Glück vereint. So läßt sich die Rollerfahrt herrlich genießen.

Und: Soll ich Ihnen noch eine Steigerung verraten, die besser geeignet ist als eine S-Bahn-Station? Es sind lange Flure mit Linoleum-Böden. Insbesondere Krankenhäuser haben sie oft – meist in ihren Kellern. Aber lassen Sie sich nicht erwischen – am besten fahren Sie auch hier nachts (wenn Sie sowieso gerade mal wieder nicht schlafen können 🙂 !

 

Diskussion des Beispiels vom Rollerfahrer

Ich schätze dieses Beispiel so sehr, weil es die Abgrenzungsproblematik so gut aufzeigt. Stellen Sie sich vor, ein Parkinson-Kranker erzählt Ihnen von seinem Roller und wie er ihn benutzt – in der Reihenfolge wie im Beispiel dargestellt. Was denken Sie über den Kranken? Am Anfang werden Sie sich sagen, er habe doch eigentlich Recht – er ist phasenweise schlecht beweglich und schafft Abhilfe mit dem Roller. Er benutzt ihn auch zum Einkaufen – eigentlich wirklich keine schlechte Idee, finden Sie nicht auch?

Er würde diese Idee gerne mit einem Rollerhersteller verwirklichen – na ja, vielleicht ein wenig übertrieben, aber warum eigentlich nicht?

Er tobt sich damit aus – ist das von der Hand zu weisen?

Nachts in der S-Bahn-Station? – Eine Marotte, aber Anzeichen für ein Problem?

Aber das Interessante ist: der „schlaue“ Parkinson-Kranke erzählt Ihnen von dieser Story gar nicht alles! Sie hören die Geschichte vielleicht nur bis zum Einkaufen. Hand aufs Herz: Würden Sie Schlimmes dabei vermuten? Und selbst, wenn man die ganze Story kennt: Ist es nicht nachvollziehbar?

Wenn Sie sich in den Kranken oder einen fiktiven Zuhörer hineinversetzen, zeigt dieses Beispiel meines Erachtens die Ambivalenz der Symptomatik auf. Wer kann mit Sicherheit sagen, ob das noch „gesund“ ist – oder eben nicht?

Es zeigt aber noch weitere Facetten: die „Wahnvorstellungen“, die mit entsprechenden Glücksgefühlen einher gehen. Er ist stolz auf die Idee, er ist stolz auf seinen „Vermarktungsansatz“, er sieht sich auf dem Roller wie der Held in „Titanic“. Ist das übersteigertes Selbstbewußtsein?

Auch die immer positive Sichtweise scheint ein wesentliches Merkmal zu sein. Die Schlaflosigkeit wird nicht problematisiert, sondern „gelöst“ durch das nächtliche Austoben. Probleme werden flugs beiseite geräumt – zumindest in Gedanken.

Möglicherweise wird man sogar vom eigenen Umfeld gelobt. Das beflügelt einen noch weiter, denn in unserem Hirn wird Dopamin ausgeschüttet, wenn wir gelobt werden – und genau diesen „Schmierstoff“ zum Glück braucht der Parkinson-Kranke.

 

 

Der Computergeek

Ein geek oder nerd bezeichnet im Englischen eine Art Streber. Mit ihm werden gewisse Klischees verbunden – bärtig, auf Birkenstock-Sandalen laufend (also: gesund lebend), stets mit Wollpulli bekleidet und vor allem: mit viereckigen Augen ausgestattet, die das genaue Abbild eines Computerbildschirmes darstellen. Kurz: Vermutlich theoretisch sehr intelligent, aber vollkommen unbegabt für das praktische Leben, in dem es „menschelt“ und das deshalb nicht berechenbar ist.

Stellen wir uns nun vor, dass so jemand Parkinson bekommt. War der Betreffende bisher schon in einem gewissen Sinne menschenscheu, so wird er es jetzt vermutlich erst recht. Denn wenn zu den oben beschriebenen Eigenschaften auch noch ein humpelnder Gang, fahrige oder zittrige Bewegungen oder ein träges beziehungsweise zögerlich wirkendes Verhalten hinzukommt, dann wird das Umfeld möglicherweise noch kritischer gegen so einen Menschen eingestellt sein.

Nun nehmen wir an, der Betreffende enteckt für seine, ihm so vertraute Welt der Computerei  weitere Anwendungsmöglichkeiten oder neue Zielgruppen. Er spürt, dass man mit Computersoftware Dinge tun kann, die insbesondere Alten und Kranken nützen. Das mögen anfangs Kleinigkeiten sein. Zum Beispiel fällt ihm bei jedem Krankenhausaufenthalt oder bei jedem Arztbesuch auf, dass er die immergleichen Fragebögen ausfüllen muss: stets muss er Name, Adresse, Telefonnummer entragen, stets seinen Versicherungsstatus offenlegen, Auskünfte über seine Medikation erteilen etc. Also sagt er sich: Kann man die Daten nicht recyceln? Und so erschafft er eine Art universelles Aufnahmeformular für Krankenhäuser oder Besuche bei neuen Ärzten.

Einmal damit angefangen, kommen ihm natürlich zahlreiche weitere Formulare in den Sinn. Er entwickelt zum Beispiel ein elektronisches Formular für das tägliche Bewegungsprotokoll, das er bisher bei jedem Krankenhausaufenthalt papiergebunden ausfüllen musste. Das erleichtert das Ausfüllen – und vor allem könnte eine systematische Erfassung solcher Daten und ein Abgleich mit Medikamentendatenzeitreihen eines Tages statistische Analysen darüber ermöglichen, wie Medikamente wirken.

Aber es sind nicht nur Formulare, an die er denkt. Nein, ihm fällt natürlich auf, dass das Internet gerade für Alte und Kranke eine ideale Plattform bildet. Man kann Erfahrungen weitergeben oder bekommen. Man kann – ungehindert von Phasen der Unbeweglichkeit – Nachrichten austauschen. Man kann sich über Kontinente hinweg mit anderen Menschen verständigen. Man kann Aufklärungs- und Dokumentationsfilme anschauen. Man kann sich über Forschungsvorhaben, medizinische Studien und ähnliche Dinge umfassend informieren. Krankenhäuser, die Studien durchführen, können dafür Patienten rekrutieren.

Und so geschieht das Unvermeidliche: Die Zeit, die der Betreffende vor dem Bildschirm verbringt, wird immer länger. Er wühlt sich immer tiefer in seine Arbeiten. Und als betroffener Patient nutzt er das Internet intensiv für oben genannte Zwecke.

 

Diskussion des Beispiels vom Computergeek

Wann beginnt sie – die Computersucht? Ist dies überhaupt ein Fall von Computersucht?

Der Patient argumentiert: der Computer ist mein Metier, mein Beruf, meine Berufung. Jeder Büroangestellte verbringt täglich circa acht Stunden an seinem Schreibtisch – soviel wie ich.

Sein Umfeld argumentiert: Du kommst von dem Computer nicht mehr los. Vor allem: Du vernachlässigst andere Dinge dafür. Und: Deine Schätzung des Zeitaufwands ist falsch, denn auch am Wochenende hängst Du vor dem Bildschirm. Außerdem wächst die Zeitspanne mit Computertätigkeit tendenziell immer mehr an.

Wer hat Recht? Auch dieser Fall ist nicht leicht einzuschätzen.

 

Der Wohnungsauszug – Selbstorganisation

Es war einmal ein Parkinson-Kranker, der sollte (und wollte) seine Wohnung räumen. Er war in seinem Leben schon oft umgezogen und wußte daher, dass das letzte Auf- und Ausräumen stets länger dauert als geplant – man stösst in „unbekannten“ Schubladen doch stets noch auf viel mehr Material, als man vermutet hätte. Und doch geschah es, dass er am Vorabend der Wohnungsübergabe an seinen Vermieter sicher glaubte, er könne noch etwas wichtiges erledigen und die letzten Reinigungs- und Ordnungsaktivitäten am Morgen des Folgetages erledigen.

Der Folgetag brach an. Früh stand unser Wohnungsmieter auf, um mit den Vorbereitungen der Wohnungsübergabe zu beginnen. Um 7 Uhr merkte er allerdings, dass es bis 10 Uhr kaum zu schaffen sein würde  – um diese Uhrzeit würde der Vermieter zur Abnahme kommen, so war es verabredet.

Also rief er seinen Kollegen René an, der über ein Auto verfügte. Er fragte diesen, ob er helfen könne – beim Aufräumen und beim Abtransport aller Sachen – denn auch hierfür waren keinerlei Vorkehrungen getroffen worden. Bereits eine halbe Stunde später erschien besagter Kollege, um zu helfen. Das Auto quoll förmlich über, so viel Material hatte sich angesammelt. Ohne diese Transportkapazität wäre der Auszug überhaupt nicht möglich gewesen.

Als der Parkinson-Kranke den Eindruck hatte, die wichtigsten Sachen seien nun verstaut, schickte er den helfenden Bekannten wieder zurück – er wolle ihn ja nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, war doch bereits das erste Hilfeersuchen außerordentlich peinlich.

Kaum war der Helfer mit seinem vollgeladenen Wagen davongefahren, merkte unser Patient, dass es doch immer noch etliche abzutransportierende Gegenstände gäbe. Einen Teil deponierte er im Keller, einen anderen Teil würde er in einem Taxi abtransportieren. Leider wurde er aber mit der Reinigung der Wohnung bis zum Erscheinen des Vermieters nicht fertig. Zum Glück konnte es dieser ermöglichen, eine Stunde später als ursprünglich vereinbart wiederzukommen.

Und so klappte es mit der Übergabe dann doch leidlich. Aber auch nur deshalb, weil der freundliche Taxifahrer einverstanden war, den Hausrat zu transportieren. Letztlich kam unser Kranker nur deshalb mit einem blauen Auge davon, weil alle drei – Kollege, Vermieter, Taxifahrer – ihr jeweiliges Scherflein beisteuerten.

 

Diskussion des Beispiels vom Wohnungsauszug

Selbstüberschätzung und verschwundenes Organisationstalent zeigen sich an diesem Beispiel ganz gut. Die Realität wurde schlicht nicht mehr richtig eingeschätzt. Gleichzeitig wollte sich der Parkinson-Kranke seine Hilfsbedürftigkeit aber nicht eingestehen. Es ist diese Kombination – fehlender Realismus bei Selbstüberschätzung -, die solche Situationen so kritisch erscheinen läßt.

Dopamin ist bekanntlich ein Glückshormon – es führt manchmal zu allzu rosiger Betrachtung der Welt.

 

Weitere Beispiele werden folgen. Aus den bisherigen Beispielen können wir aber bereits lernen, wie schwierig die Grenzziehung im Einzelfall ist. Dies hat wichtige Konsequenzen: denn es bedeutet, dass ein Dialog mit dem Umfeld des Patienten sehr wichtig ist. Welches Maß ist das Richtige? Liegen bereits Anzeichen einer Sucht vor? Gibt es gar mehrere?